Meldung 06. Oktober 2022

Im Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und FDP neue zusätzliche Leistungen in der Pflegeversicherung vereinbart. Der wissenschaftliche Beirat beim Wirtschaftsministerium rät nun jedoch von den angedachten Maßnahmen ab – und schlägt für eine generationengerechte Finanzierung Alternativen vor.

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat die Bundesregierung vor einer Ausdehnung von umlagefinanzierten Leistungen in der Pflegeversicherung gewarnt. Das Expertengremium hatte im Gutachten „Nachhaltige Finanzierungen von Pflegeleistungen“ die Wirkungen der angedachten Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag untersucht. Das Ergebnis: Sowohl die von der Ampelkoalition geplante Begrenzung der Eigenanteile in der stationären Pflege („Sockel-Spitze-Tausch“) als auch der avisierte Ausbau der gesetzlichen Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung würden die jüngeren Generationen massiv belasten.

Schon heute ist die Soziale Pflegeversicherung (SPV) weder nachhaltig noch generationengerecht finanziert, heißt es im Gutachten. Das Umlageverfahren in der Sozialversicherung ist nicht auf den demografischen Wandel vorbereitet. Während in unserer alternden Gesellschaft immer mehr Menschen Pflegeleistungen benötigen und diese gleichzeitig immer teurer werden, wird die Zahl der Beitragszahlerinnen und Beitreagszahler rapide abnehmen. Auf die jüngeren Generationen kommen deshalb immense Kosten zu. Diverse Hochrechnungen – unter anderem vom Wissenschaftlichen Institut der PKV – haben ergeben, dass der SPV-Beitragssatz von heute 3,05 Prozent (3,4 Prozent für Kinderlose) bis 2040 auf über 5 Prozent stiegen wird. Dabei sind die Pläne der Ampel-Koalition zur Leistungs­ausweitung noch nicht einmal berücksichtigt, betonen die Gutachter.

Diese weisen außerdem darauf hin, dass bei der Interpretation der Ergebnisse auch die Entwicklung der weiteren umlagefinanzierten Sozialversicherungen berücksichtigt werden müssen. So drohen die Beitragssätze zur gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung in den nächsten beiden Jahrzehnten ebenfalls erheblich zu steigen. Der Gesamtbeitrag zur Sozialversiche­rung könnte sich bis 2040 auf 49 bis 53 Prozent erhöhen. „Es ist zu bezweifeln, dass die Beitragszahlenden des Jahres 2040 bereit sein werden, einen so großen Anteil ihres Arbeitseinkommens abzutreten, dessen über­wiegender Teil der Versorgung einer älteren Gene­ration dient, die es versäumt hat, selbst für das Alter vorzusorgen, weil sie weder Kapital angespart noch für eine ausreichende Anzahl an Nachkommen gesorgt hat“, warnt der Beirat.

Es ist zu bezweifeln, dass die Beitragszahlenden des Jahres 2040 bereit sein werden, einen so großen Anteil ihres Arbeitseinkommens abzutreten, dessen über­wiegender Teil der Versorgung einer älteren Gene­ration dient, die es versäumt hat, selbst für das Alter vorzusorgen, weil sie weder Kapital angespart noch für eine ausreichende Anzahl an Nachkommen gesorgt hat.“

Gutachten „Nachhaltige Finanzierungen von Pflegeleistungen“

Noch nicht zu spät für generationengerechte Pflegereform

Anders als in der Rentenversicherung sei es für eine nachhaltige und generationengerechte Reform der Pflegeversicherung noch nicht zu spät, leitet das Gutachten zu den Empfehlungen über. Bei der Ausgestaltung sollte die Politik jedoch keine neuen Leistungen in die SPV aufnehmen. Aus Gründen der Generationengerechtigkeit spreche einiges dafür, die bestehende Aufteilung der Finanzierung von Pflegeleistungen durch gesetzliche Pflegeversiche­rung und private Vorsorge beizubehalten. Eine wei­tere Umverteilung von Jung zu Alt könne vermieden werden, wenn jede Generation selbst für die Kosten aufkomme, die sie im Pflegefall verursacht.

Zur zusätzlichen Absicherung der steigenden Eigenanteile an den Pflegekosten schlägt der Beirat eine verpflichtende private Zusatzversicherung vor. Diese zusätzliche Kapitaldeckung sei aus zwei Gründen sinnvoll: Weil das Pflegerisiko der Menschen erst ab dem Alter von 75 Jahren deutlich steigt, hätten die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation (1957–1969) noch Zeit, um ein Vorsorgekapital aufzubauen. Zudem könne eine Überforderung zukünftiger Steuerzahlerinnen und Steuerzahler vermieden werden, weil eine verpflichtende kapitalgedeckte Pflegeversicherung besonders zielgerichtet hohe Risiken relativ weniger Einzelner auf eine große Zahl von Versicherten verteilt. Personen mit niedrigem Einkommen könnten durch staatliche Subventionen beim Unterhalt dieser Versicherungen unterstützt werden.

Betriebliche Pflegeversicherung als Alternative

Neben der individuellen Pflegevorsorge könnte die betriebliche Pflegeversicherung eine tragende Rolle übernehmen. Als Beispiel wird im Gutachten der Tarifvertrag der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) mit dem Arbeitge­berverband der Chemischen Industrie für die Beschäftigten der genannten Branche als Beispiel genannt. Im Rahmen des Programms CareFlex Chemie erhalten derzeit über 400.000 Personen eine Pflegetagegeldversi­cherung in Höhe von 1.000 Euro monatlich im Falle stationärer Pflege ab Pflegegrad 2, und der Beitrag für die Beschäftigten selbst wird von den Arbeitgebern gezahlt. CareFlex Chemie zeige einen möglichen Weg auf, wie die Pflegevorsorge für einen Großteil der Bürger zu akzeptablen Transaktionskosten erfüllt werden könnte, so der Beirat.