Meldung 15. September 2022

Um die Finanzlücken der Gesetzlichen Krankenversicherung zu schließen, fordern Kassenvertreter eine dauerhafte Ausweitung der Bundeszuschüsse. Wissenschaftler warnen jedoch vor den negativen Folgen eines höheren staatlichen Finanzierungsanteils in der Sozialversicherung.

Droht Patientinnen und Patienten im Krankenhaus jetzt eine „Pflege nach Kassenlage“? Das Bundesgesundheitsministerium soll zukünftig die Vorgaben zur Ermittlung des Pflegepersonalbedarfs und zur Festsetzung der Personalbesetzung nur noch im Einvernehmen mit dem Bundesfinanzministerium bestimmen dürfen. Einen entsprechenden Entwurf für das Krankenhauspflege-Entlastungsgesetz hat das Kabinett beschlossen. Dieser stößt in der Krankenhausbranche und bei Kassenvertreter auf viel Kritik. „Wenn sich der Bedarf nach den Interessen des Finanzministers orientieren muss, ist der tatsächliche Pflegebedarf maximal noch zweitrangig: Er würde nach Kassenlage definiert“, kommentiert der Vorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Und auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) warnt in seiner Stellungnahme vor dem „Rotstift“ bei angespannter Haushaltslage.  

Budget-Konkurrenz führt zu medizinischen Versorgung nach Kassenlage

Welche Folgen es hat, wenn steuerfinanzierte Gesundheitssysteme von der jeweiligen Haushaltslage des Staates abhängig sind, zeigt sich in mehreren europäischen Ländern.  Dort kommt es immer wieder zur Rationierung von Leistungen, schreiben die Professoren Volker Ulrich (Universität Bayreuth) und Eberhard Wille (Universität Mannheim) in einem Gutachten  für den PKV-Verband. „Steuern zur Finanzierung von Gesundheit oder Pflege konkurrieren im Bundeshaushalt unmittelbar mit Mitteln für wichtige Zukunftsfelder wie Verkehr, Digitales, Bildung, Klima oder Infrastruktur.“ Diese Budget-Konkurrenz kann zu einer medizinischen Versorgung nach Kassenlage führen, folgern die Studienautoren.

Die akuten Warnungen vor haushaltspolitischen Leistungskürzungen in der Gesundheitsversorgung kommen nicht von ungefähr: Die Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung kämpft mit Milliardendefiziten. Mindestens 17 Milliarden Euro soll im Jahr 2023 das Defizit der Krankenkassen betragen. Dabei steht der ganz große finanzielle Druck des demografischen Alterungsprozesses erst noch bevor. Der Eintritt der Babyboomer in den Ruhestand führt in den kommenden Jahren zu stark steigenden Gesundheits- und Pflegekosten von immer mehr Älteren, wobei es zugleich immer weniger erwerbstätige Beitragszahler gibt.

Während der Staat mit multiplen Krisen, Rufen nach milliardenschwere Hilfsprogrammen und der verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse kämpft, setzen sich Kassenvertreter aktuell für höhere Steuerzuschüsse ein, um die Finanzlücken „nachhaltig“ zu schließen. So fordert der Verband der Ersatzkassen eine jährliche Dynamisierung der Bundeszuschüsse.

Hoher Konsolidierungsdruck auf Bundeshaushalt

Eine steuerfinanzierte Stabilisierung der Beitragssätze in den gesetzlichen Sozialversicherungen unter Einhaltung der Schuldengrenze würde jedoch einen immensen Konsolidierungsdruck auf den Bundeshaushalt aufbauen. Noch vor dem Krieg in der Ukraine, der Energie-Krise und dem hohen Anstieg der Inflation hatten die Ökonomen Prof. Thiess Büttner und Prof. Martin Werding den zusätzlichen Finanzbedarf bis 2025 auf insgesamt 144 Milliarden Euro berechnet. Ohne Strukturreformen in den einzelnen Sozialversicherungszweigen, die die Entwicklung ihrer Ausgaben spürbar dämpfen, werde eine Stabilisierung der Beitragssätze schwerlich gelingen, schlussfolgerten Büttner und Werding.

Höherer Bundeszuschuss in der GKV keine Lösung

Dauerhaft höhere Steuerzuschüsse können die strukturellen Finanzprobleme nicht lösen, warnt auch das Wissenschaftliche Institut der PKV (WIP). Mit steigender Steuerfinanzierung würde nicht nur der grundlegende Vorteil einer haushaltspolitisch weitgehend unabhängigen GKV mehr und mehr verloren gehen. Die Steuerzuschüsse würden zudem lediglich eine Finanzierungsillusion erzeugen, die Lasten von den Beitragszahlern auf die Steuerzahler verschoben.

Die Gesundheitsökonomen Prof. Volker Ulrich und Prof. Eberhard Wille lehnen deshalb die Ausweitung der Steuerzuschüsse mit Blick auf die Generationengerechtigkeit ab: „Der Bundeszuschuss zur Sozialversicherung würde dann im Wesentlichen über neue Schulden finanziert, die zu einer Umverteilung zwischen den Generationen führen, da sie letztlich auf das Verschieben von Steuerlasten hinauslaufen, wenn die Kredite später über Steuern zurückgezahlt werden müssen. Wir vererben damit nicht nur Schulden, sondern auch kostspielige Verteilungskonflikte.“