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Merkel-Kritik in der CDU »Wir müssen die Kanzlerschaft auf zwei Wahlperioden begrenzen«

Nach ihrer Oster-Kehrtwende gerät Angela Merkel auch in ihrer Partei unter Druck. Carsten Linnemann, Chef des CDU-Wirtschaftsflügels, zählt die Kanzlerin an – und fordert eine Offensive von Parteichef Laschet.
Ein Interview von Melanie Amann und Veit Medick
CDU-Politiker Linnemann: »Sonst haben wir keine Chance«

CDU-Politiker Linnemann: »Sonst haben wir keine Chance«

Foto: Julia Steinigeweg

SPIEGEL: Sie vertreten dieser Tage die These, CDU und CSU müssten sich von der Regierung emanzipieren. Was soll dieser Aufruf zur Rebellion?

Linnemann: Es geht doch nicht um Rebellion. Die Partei muss immer einen Schritt weiter gehen als die Regierung, das gehört für mich zur Demokratie. Weil wir so lange regieren, wird dieses Prinzip nicht mehr richtig gelebt. Das ist ein Grund dafür, dass wir im Moment so schlecht dastehen. Wir haben in Deutschland ein Visionsvakuum.

SPIEGEL: Das ist nach fast 16 Jahren Merkel-Kanzlerschaft ein hartes Urteil.

Linnemann: Deutschland gehört immer noch zu den Top-Ländern weltweit, das ist auch Frau Merkels Verdienst. Aber wir sind träge geworden. Es ging uns gut, die Wirtschaft lief. Wir haben uns in der Komfortzone eingerichtet und dabei die Erneuerung verschlafen. In der Pandemie erleben wir plötzlich, dass zum Beispiel das gesamte Beschaffungswesen der Politik nicht funktioniert hat, vom Impfen bis zum Testen. Das muss doch ein Weckruf sein.

SPIEGEL: Wieso hat die Union in der Regierung so lange geschlafen?

Linnemann: Wir waren zu lange auf Harmonie mit den Sozialdemokraten aus. Da hat man auch eine Verantwortung als CDU-Kanzlerin, auch mal Flagge zu zeigen und die eigene Programmatik klar und erkennbar zu vertreten.

SPIEGEL: Wo fehlte Ihnen konkret die CDU-Handschrift?

Linnemann: Nehmen wir die Grundrente. Die war im Koalitionsvertrag eigentlich anders vereinbart. Davon abweichend haben wir auf die Prüfung, ob ein Bedarf bei den Empfängern überhaupt besteht, weitgehend verzichtet, nur um den Streit mit der SPD zu vermeiden. Das ist verantwortungslos gegenüber den Beitragszahlern und widerspricht unserer DNA. Oder nehmen wir Lars Feld…

SPIEGEL: ... den liberalen Ökonomen, der seine Position als »Wirtschaftsweiser« gerade auf Druck der SPD verloren hat.

»Harmonie ist ja schön. Aber man muss darauf achten, dass die Union eine Zukunft hat.«

Linnemann: Da hätte sich die Union in der Regierung durchsetzen müssen. In der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten verzichtet die Regierung auf einen der renommiertesten Ökonomen Deutschlands – nur weil dieser der SPD nicht passt. Und wir nehmen das einfach so hin. Harmonie ist ja schön. Aber man muss schon auch darauf achten, dass die Union eine Zukunft hat, lebendig bleibt. Es braucht einen neuen Mechanismus: Wir müssen die Kanzlerschaft auf zwei Legislaturperioden begrenzen.

SPIEGEL: Was soll das bringen?

Linnemann: So werden Parteien gezwungen, sich permanent zu erneuern. Auch Spitzenämter in der Union und Ministerposten sollten zeitlich begrenzt werden. Ohne Erneuerung ermatten wir.

SPIEGEL: Im Moment hat die Union doch ganz andere Probleme. Die Kanzlerkandidatur ist offen, Abgeordnete haben sich bereichert. Ihr Ex-Fraktionskollege Nikolas Löbel hat mit Maskengeschäften 250.000 Euro kassiert. Was haben Sie gedacht, als Sie von dem Fall hörten?

Linnemann: Ich war geschockt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie jemand auf die Idee kommen kann, sein Mandat dafür zu nutzen, mit Masken Geschäfte in die eigene Tasche zu machen. Wir brauchen jetzt bessere Regeln. Da sind wir auch dran. Man könnte natürlich noch weitergehen. Ich persönlich könnte mir beispielsweise vorstellen, dass Vortragshonorare für Abgeordnete künftig verboten werden.

SPIEGEL: Sie haben noch nie einen bezahlten Vortrag gehalten?

Linnemann: Nein, ich habe als Bundestagsabgeordneter noch nie Vortragshonorare für mich behalten und auch sonst nie nebenbei dazuverdient. Ich habe eine gemeinnützige Stiftung für benachteiligte Jugendliche gegründet. Wenn ich Reden halte, kann man der Stiftung gerne etwas spenden, ansonsten sind Honorare für mich tabu. Ich würde auch Vergütungen für neue Aufsichtsratsmandate, die man während seiner Abgeordnetentätigkeit erhält, untersagen. Wir Abgeordneten verdienen genug Geld. Wer in die Politik will, braucht Leidenschaft – keine zusätzlichen Einnahmen, indem man sein Mandat zu Geld macht.

SPIEGEL: Die Honorare sind doch ein Randaspekt. Was ist mit den Beratungsfirmen, die gerade Unionsabgeordnete gerne gründen?

»Wer in die Politik will, braucht Leidenschaft – keine zusätzlichen Einnahmen.«

Linnemann: Da würde ich trennen zwischen der Zeit vor dem Mandat und seit dem Mandat. Wenn jemand eine Beratungsfirma im Bau oder Handwerk vorher gegründet hat, dann sollte das niemand aufgeben müssen. Als Abgeordneter aber eine politische Beratung zu gründen, die dann womöglich noch im eigenen Themenbereich operiert, das geht nicht.

SPIEGEL: Die CSU will alle Nebentätigkeiten für führende Fraktionspolitiker verbieten, und Nebeneinkünfte ab dem ersten Euro meldepflichtig machen. Gehen Sie da mit?

Linnemann: Moment. Ja, wir brauchen mehr Transparenz. Aber wir dürfen auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Dann bestünde die große Gefahr, dass wir ein Parlament bekommen, in dem nur Berufspolitiker und Beamte sitzen. Das Parlament sollte ein Spiegelbild der Gesellschaft sein. Es ergibt keinen Sinn, alle Nebentätigkeiten zu verbieten. Ich etwa sitze im Beirat eines Fraunhofer-Instituts, bin Vorsitzender der Stiftung Lebenslauf und Vizepräsident des SC Paderborn, alles ehrenamtlich. Klar müssen wir über Vergütung reden. Aber doch nicht über solche Funktionen.

SPIEGEL: Mark Hauptmann, Tobias Zech, Nikolas Löbel – vor allem jüngere Unions-Abgeordnete scheinen dem Geld zu verfallen. Ist das ein Generationenproblem?

Linnemann: Nein, auch die jüngeren Abgeordneten bei uns sind großartige Kollegen, die sauber arbeiten. Aber als ich 2009 in den Bundestag kam, habe ich schon gedacht: So ein erfahrener Kollege als Mentor würde mir gut tun. Als Abgeordneter ist man natürlich sehr frei. Außerdem wird man viel hofiert. Das mag für manche verführerisch sein. Vielleicht müssen wir uns da ein Mentoren-Angebot einfallen lassen.

SPIEGEL: In nicht einmal sechs Monaten sind Bundestagswahlen. Und die Union hat immer noch keinen Kanzlerkandidaten. Wie finden Sie das?

Linnemann: Zwischen Ostern und Pfingsten soll die Frage entschieden werden. Der Fahrplan ist doch gut. Ich warne allerdings davor, zu denken, mit der Kür des Kanzlerkandidaten wären alle Probleme gelöst. Wir brauchen parallel ein klares Profil der Partei. Das muss systematisch erarbeitet werden.

Carsten Linnemann mit SPIEGEL-Büroleiterin Melanie Amann und SPIEGEL-Redakteur Veit Medick

Carsten Linnemann mit SPIEGEL-Büroleiterin Melanie Amann und SPIEGEL-Redakteur Veit Medick

Foto: Julia Steinigeweg

SPIEGEL: Gut, dann reden wir erst mal übers Programm. Wird das nicht von Herrn Laschet systematisch erarbeitet?

Linnemann: Selbstverständlich, aber ich sehe die Gefahr, dass dem Wahlprogramm die nötige Profilschärfe fehlt, weil wir so viele Gruppen und Interessen berücksichtigen müssen. Wir brauchen deshalb daneben ein Gremium aus 15 Politikern und 15 Experten, die fernab von Parteizwängen eigene Vorschläge machen und ohne Denkverbote ein Zukunftskonzept auf Basis der Sozialen Marktwirtschaft entwickeln. Darüber bin ich mit Armin Laschet im Gespräch. Wir brauchen einen Deutschland-Plan für unser Comeback.

SPIEGEL: Sie klingen wie ein Oppositionspolitiker. Regiert Ihre Partei das Land nicht seit 16 Jahren?

Linnemann: Das ist doch kein Grund, nicht auch mal neu zu denken. Wir sehen doch gerade, was alles nicht funktioniert bei uns. Seit einem Jahr machen wir in der Pandemie nur Risikovermeidung statt Risikomanagement, es fehlen die kreativen Ansätze, von den Apps bis zu den Tests. Wir drehen uns immer im Kreis und am Ende kommt wieder ein Lockdown raus. Es fehlt einfach die Botschaft der Hoffnung. Dass wir nach zwölf Monaten einfach nur sagen »Weiter so«, ist schrecklich hilflos und unoriginell. Wir brauchen einen Befreiungsschlag.


SPIEGEL: Aber programmatisch kommt nun mal nicht viel von Ihrer Partei. Nur an die schwarze Null klammern Sie sich immer noch.

Linnemann: Die schwarze Null ist auch völlig richtig und muss ins Wahlprogramm. Sie ist CDU pur. Sie sorgt für solide Staatsfinanzen und für klare Regeln. Ich muss doch glaubwürdig vor meine Wähler treten und sagen können: Ich kann jetzt nicht noch ein Rentenprogramm machen. Wir haben da eine klare Schuldenregel.

SPIEGEL: So wollen Sie die Bundestagswahl gewinnen?

Linnemann: Unsere Vorschläge müssen weitergehen, klar. Wir brauchen zum Beispiel einen Belastungsstopp für den Mittelstand, ein Familiensplitting zur Stärkung der Familien, eine Digitalisierungsoffensive für die öffentliche Verwaltung und eine Föderalismusreform, um das Zuständigkeitswirrwarr aufzulösen und auf Krisen besser vorbereitet zu sein.

SPIEGEL: Wie grün muss die Union werden, um die Wahl zu gewinnen?

Linnemann: Es ist falsch, immer zu rufen: grün, grüner, am grünsten. Wir haben doch alle das Ziel, nachhaltig zu leben und zu wirtschaften. Die Klimafrage wird nicht an der deutschen Fleischtheke entschieden oder durch Fahrverbote. Sie wird global durch intelligente Maßnahmen entschieden. Ich bin Fan eines länder- und sektorübergreifenden Emissionshandels. Den müssen wir ganz schnell ausweiten, erst europaweit, dann weltweit. Dann entscheidet die Politik, wie viel CO2 eingespart wird und Wirtschaft und Bürger entscheiden, wo man es am effizientesten tun kann.

SPIEGEL: Die Wirtschaft und die Bürger sollen es richten, das klingt nach Kapitulation der Politik.

Linnemann: Nein, das klingt nach sozialer Marktwirtschaft. Wir machen doch seit Jahren den Fehler zu glauben, dass Politik durch Verbote die Klimawende schaffen kann. In meinem Nachbarkreis Gütersloh sind Luftballons in der Öffentlichkeit verboten worden, die mit Helium gefüllt werden. So weit sind wir schon. Wir dürfen nicht Vorreiter im Schlechten sein, sondern Vorbild im Guten. Dafür braucht es eine Lösung über einen Marktpreis für CO2.

SPIEGEL: Nochmal zur Kanzlerkandidatur: Wer ist Ihr Favorit? Armin Laschet oder Markus Söder?

Linnemann: Die Kanzlerkandidatenfrage ist offen. Beide können es. Wenn Armin Laschet in den nächsten Wochen mit Zukunftsthemen in die Offensive geht, hat er als CDU-Chef in meinen Augen die besten Chancen, Kanzlerkandidat der Union zu werden.

SPIEGEL: Das klingt jetzt nicht wie ein Argument, das aus tiefster Überzeugung kommt.

Linnemann: Wir müssen der Realität ins Auge schauen: Wir haben von den letzten 22 Wahlen, auf Europa-, Landes und Kommunalebene, 21 Wahlen verloren. Die Lage ist ernst. Da sollten wir schon gut überlegen, wer es machen soll und mit welcher Programmatik.

SPIEGEL: Wenn Sie für einen klaren Kurs sind, müssten Sie doch eigentlich für Söder sein, oder?

Linnemann: Stimmt nicht. Fragen Sie mal in NRW, wie die Landesregierung etwa bei der inneren Sicherheit durchgreift. Das ist kein Wischiwaschi. Das ist knallhart. Nur, weil Armin Laschet einbindet, heißt das nicht, dass er kein Profil hätte. Er hat bewiesen, dass er regieren kann. Aber nochmal: Neben der Person brauchen wir Ideen. Dann haben wir eine Chance.