Politik

Viele neue Forderungen SPD wandert auf dem Grat zum GroKo-Absturz

Andrea Nahles am Mittwoch bei einem Besuch auf der Wartburg in Eisenach.

Andrea Nahles am Mittwoch bei einem Besuch auf der Wartburg in Eisenach.

(Foto: dpa)

Am Wochenende will die SPD ein Konzept für einen modernen Sozialstaat beschließen, das Ziel ist die Erneuerung der Partei. Die CDU wirft ihr vor, sie vertrete "ein Programm für Politikverdrossenheit", von dem Protestparteien profitieren würden.

"Man kann eine Partei in der Regierung erneuern", sagte Andrea Nahles vor knapp einem Jahr auf dem Parteitag in Wiesbaden, auf dem sie zur SPD-Vorsitzenden gewählt wurde. "Diesen Beweis will ich ab morgen antreten."

Der Beweis, dass diese Gratwanderung funktioniert, steht noch aus: Für die SPD geht es zunächst um die eigene Erneuerung. Gewissermaßen unbeabsichtigt könnte das die Große Koalition in Gefahr bringen.

An diesem Sonntag trifft sich die SPD-Spitze zu einer zweitägigen Klausurtagung, auf der ein Konzept für den "Sozialstaat für eine neue Zeit" beschlossen werden soll. "Wir werden am Wochenende bei der programmatischen Neuaufstellung der SPD ein großes Stück vorankommen", sagt Generalsekretär Lars Klingbeil n-tv.de. "Die SPD wird eine Antwort geben auf die Frage, wie ein moderner Sozialstaat in diesen Zeiten aussehen soll. Anschließend werden wir mit CDU und CSU besprechen, welche Vorschläge schnell in der Regierung umgesetzt werden können. Bei einigen Punkten bin ich optimistisch, andere Dinge werden mit der Union schwer."

Einzelne Forderungen der SPD, die Teil des Gesamtkonzeptes sind, sind bereits bekannt:

  • Die Kindergrundsicherung etwa, die Kindergeld, Kinderzuschlag, etwaige Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket sowie Hartz-IV-Zahlungen zusammenbinden soll,
  • die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung, die Sozialminister Hubertus Heil fordert,
  • eine längere Zahlung von Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitslose,
  • ein Bürgergeld, das Hartz IV ersetzen soll,
  • die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro,
  • ein Recht auf Weiterbildung für jeden
  • sowie, ganz neu, ein Recht auf Homeoffice.

Die meisten dieser Forderungen haben eines gemein: Sie wurden vom Koalitionspartner umgehend zurückgewiesen. Heils Konzept zur Grundrente gehe "weit über das hinaus, was im Koalitionsvertrag Gegenstand der Beschlussfassung war", sagte CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer in einem Twitter-Video. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ über ihren Regierungssprecher ausrichten, dass die Grundrente zwar im Koalitionsvertrag stehe - dass aber geprüft werden müsse, "ob die Maßnahme die Richtigen erreicht und wie die Lebensumstände des Einzelnen sind". Soll heißen: Grundrente ja, aber nicht zu dem von der SPD genannten Preis von 6,5 Milliarden Euro und schon gar nicht ohne Bedürftigkeitsprüfung. "Deswegen werden wir das Thema im nächsten Koalitionsausschuss am 13. Februar aufrufen", so AKK.

"Wir gestalten, was möglich ist"

Schwer dürften alle Themen werden, die Geld kosten. Die Haushaltssituation lasse keine neuen Wünsche zu, "die nicht gegenfinanziert sind", hat Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus von CDU bereits angemerkt.

Dieser Streit könnte noch deutlich schärfer werden, als er es derzeit schon ist. Auf Drängen der SPD wurde in den Koalitionsvertrag eine sogenannte Revisionsklausel aufgenommen, die vorsieht, dass die Partner eine Halbzeitbilanz ziehen. Bislang plant die SPD, diese Debatte auf einem Parteitag im Herbst zu führen, also voraussichtlich nach den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Im vergangenen Jahr forderte Juso-Chef Kevin Kühnert, diesen Parteitag auf die erste Jahreshälfte vorzuziehen. Dann würde die Bilanz nach den Wahlen zum Europaparlament und zur Bremer Bürgerschaft gezogen. All diese Wahlen könnten für die SPD ungünstig ausgehen, was bei der Revision des bisher Erreichten kaum helfen dürfte.

Hinter den sozialpolitischen Reformvorschlägen der SPD steht damit immer die Frage, ob die Partei ein Platzen der Koalition riskiert. "Wir sagen als SPD klar, was wir wollen, und gestalten in der Koalition, was möglich ist", sagt Klingbeil dazu. "Ich bin überzeugt davon, dass die Union sich den Ideen für einen modernen Sozialstaat nicht verschließt. Jeder sieht doch, wie sich unsere Gesellschaft durch Digitalisierung gerade massiv verändert. Was wir in dieser Koalition nicht umsetzen können, heben wir uns für die nächste Koalition auf, wie immer die aussehen mag."

Auch die Union plant eine Revision

Eine offene Drohung klingt anders. Die Stimmung in der Koalition ist dennoch denkbar schlecht - von einer gemeinsamen Linie kann keine Rede sein. Bislang hat die Union nicht ansatzweise so viele Forderungen aufgestellt wie die SPD. Allerdings haben auch CDU und CSU deutlich gemacht, dass auch sie die Revisionsklausel für sich in Anspruch nehmen werden, wie Kramp-Karrenbauer nach einem Besuch bei der Mittelstandsvereinigung von CDU und CSU am vergangenen Montag noch einmal bekräftigte. "Der Prozess läuft", sagt Mittelstandschef Carsten Linnemann n-tv.de, "das werden wir bis Mitte des Jahres festzurren." Er könne sich vorstellen, dass die Forderung nach einer Modernisierung des Unternehmenssteuerrechts dazu gehören werde. Fraktionschef Brinkhaus hat bereits ein Papier erarbeiten lassen, das laut "Wirtschaftswoche" neben der vollständigen Abschaffung des Solidaritätszuschlags eine Deckelung der Steuerbelastung für Unternehmen bei maximal 25 Prozent vorsieht.

Spekulationen, dass zumindest Teile der CDU es darauf anlegen, die Koalition platzen zu lassen, dürften eher Wunschvorstellungen sein. Das heißt jedoch nicht, dass die Union der SPD entgegenkommen wird, um sie auf jeden Fall in der Regierung zu halten. Im Gegenteil: Mit Blick auf die Koalitionsrevision fordert die Mittelstandsvereinigung einen "Paradigmenwechsel", um Wachstum und Beschäftigung zu sichern. Zugleich hat Linnemann durchaus Verständnis, dass die SPD versucht, ihr Profil zu schärfen. "Weniger Verständnis habe ich dafür, dass selbst SPD-Bundesminister mit immer neuen sozialpolitischen Forderungen jenseits des Koalitionsvertrages eine so hohe Erwartungshaltung schüren, die nur enttäuscht werden kann. Das ist ein Programm für Politikverdrossenheit, von dem nicht die SPD profitieren wird, sondern Protestparteien."

In den letzten 20 Jahren habe die SPD 16 Jahre mitregiert und sozialpolitisch viel durchgesetzt, zuletzt etwa das Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, sagt Linnemann. "Wenn sie trotzdem verkündet, wie schlecht der Sozialstaat angeblich funktioniert, muss sie sich über Umfragewerte von 15 Prozent nicht wundern." Bei der Grundrente gebe es bereits eine Einigung: "die im Koalitionsvertrag steht und die Andrea Nahles in den Koalitionsverhandlungen selbst ausgehandelt hat". Jetzt müsse man sich zusammensetzen, "um zu schauen, wie das konkret in die Praxis umzusetzen ist".

Kurzum: Keine der beiden Seiten sagt, dass sie ein Platzen der Koalition in Kauf nimmt. Aber die Bereitschaft zum Kompromiss scheint doch weitgehend aufgebraucht zu sein. Die Gratwanderung der SPD könnte zum Absturz der Koalition führen.

Quelle: ntv.de

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