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Meinung Mittelstand in Not

Liebe Ampel, Sie brauchen einen Befreiungsschlag. Jetzt!

Gitta Connemann ist stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Gitta Connemann ist stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Gitta Connemann ist stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Quelle: picture alliance/dpa/Kay Nietfeld
Deutschlands Mittelstandsbetriebe brauchen Entlastung. Doch die Koalition ist konzeptlos. Das ist unterlassene Hilfeleistung, schreibt die Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion Gitta Connemann in einem Gastbeitrag für WELT.

Vor Kurzem war ich bei Bäckermeister Björn Hesse in Lüneburg. Ihm flattern die Preiserhöhungen nur so ins Haus. Die Kosten für Mehl, Zucker und Butter sind auf Rekordniveau. Die Preise für Gas und Strom explodieren. Die Gasumlage droht. Anders als Industriebäckereien erhält er keine Hilfe aus dem Energiekostendämpfungsprogramm der Ampel. Die Bäckerei im Herzen der Stadt gibt es bereits seit 1463. Seuchen, Kriege – der Betrieb hat alles überstanden. Aber wird er auch diese Krise bewältigen? Die Prognose ist düster. Es gibt noch rund 10.000 Bäckereien. Wenn nicht gegengesteuert wird, droht einer vierstelligen Zahl das Aus. Die Bäcker wehren sich. Sie schreiben Hilferufe, gehen auf die Straße. Sie sind zum Gesicht der Krise geworden. Zum Symbol der Bedrohung des deutschen Mittelstandes.

Alarmismus? Nein. Energiekrise und Schockinflation treffen den gesamten deutschen Mittelstand mit Wucht. Jedes dritte Industrieunternehmen fürchtet laut einer Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) um seine Existenz. Forsa ermittelte, dass 84 Prozent der Arbeitgeber mit Arbeitsplatzverlusten rechnen. Alarmierende Meldungen, gefühlt im Stundentakt sind sie Indikator für drohende Betriebsaufgaben, Insolvenzen, Stilllegungen.

Manche Betriebe bekommen nicht einmal mehr einen Energieliefervertrag. Und die anderen wissen nicht, wie sie diese bezahlen sollen. Nach zwei Jahren Corona sind viele Reserven aufgezehrt. Die Betriebe brauchen Planungssicherheit. Sofort. Sie müssen jetzt entscheiden, ob sie noch Lieferverträge abschließen. Ob eine Anschaffung noch lohnt. Ob sie Mitarbeitern kündigen müssen. Aber die Ampel schweigt oder vertagt, wenn es um den Mittelstand geht.

In Deutschland gibt es 3,5 Millionen Betriebe. Davon sind gut 98 Prozent kleine und mittlere Unternehmen. Sie sind seit jeher Motor für Arbeit, Ausbildung, Wohlstand. „Made in Germany“ wäre ohne diese nicht denkbar. Sie vereinen Können und Kreativität, Tradition und Innovation. Sie verdienen deshalb mehr als Sonntagsreden, nämlich konkretes Alltagshandeln – vorneweg durch die Ampel. Zurzeit scheint der Mittelstand dort aber keine Stimme zu haben. Die Betriebe verlieren das Zutrauen in die Politik.

Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie, wusste schon Ludwig Erhard. Aber ein stammelnder Vizekanzler schenkt aktuell keine Zuversicht. Auch der offene Streit zwischen den Ressorts kostet Vertrauen. Einigkeit besteht lediglich darin, mit dem Bürgergeld das Leistungsprinzip auszuhebeln. Für Geringverdiener wird reguläre Arbeit unattraktiv – und das laut des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei mehr als 1,9 Millionen offenen Stellen. Wenn die Lage nicht so ernst wäre, könnte man beinahe darüber lachen.

Es geht um Existenzen. Ganz Deutschland fürchtet sich vor der nächsten Stromrechnung. Und die Ampel? Gibt Duschtipps. Empfiehlt Waschlappen. Verbietet offene Ladentüren. Ohne Frage: Energie muss gespart werden. Aber das, was ging, haben die Betriebe bereits getan. Aus ureigenem Überlebenswillen. Jede Kostenschraube ist bis an den Anschlag gedreht. Jetzt kommt es auf die Ampel an.

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Am Dienstag endete der sogenannte Mittelstandsgipfel ergebnislos. Am Donnerstag schloss die zweite „Konzertierte Aktion“ des Kanzlers ohne konkrete Beschlüsse. Bei allen Entlastungspaketen ging der Mittelstand leer aus. Auch jetzt. Die Senkung der Umsatzsteuer auf Erdgas hilft vorsteuerabzugsberechtigten Betrieben nicht. Liquiditätshilfen bringen keinem Betrieb etwas, der aus der Substanz lebt. Mit der Möglichkeit einer steuerfreien Zahlung bis zu 3000 Euro erzeugt die Ampel Erwartungen bei Mitarbeitern. Bezahlen sollen es aber Betriebe, die es nicht mehr können.

Den Betrieben läuft die Zeit weg. Dabei liegen die Lösungen auf dem Tisch. Es gibt kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Es muss nicht geredet, nicht abgewogen, sondern gehandelt werden – gegen die Ursachen von Inflation und Energiepreisexplosion. Alles andere ist unterlassene Hilfeleistung. So darf das Energieangebot nicht verknappt werden. Jede Kilowattstunde zählt. Der Weiterbetrieb der drei laufenden Kernkraftwerke wäre möglich. Klimafreundlich. Die große Mehrheit der Bürger ist dafür. Die Ampel muss sich nur trauen. Und die Ideologie zur Seite legen.

Harte Haushaltsdisziplin muss her

Der Niedersachsen-Wahlkampf darf nicht wichtiger sein als die Energiesicherheit unseres Landes. Dies wäre auch ein Signal an unsere europäischen Nachbarn. Diese sind es leid, mit Gas und Strom auszuhelfen, während Deutschland sich verweigert. Europäische Solidarität geht anders. Und wir brauchen diese dringender denn je. Auch, um zu einem gemeinsamen europäischen Deckel für den Großhandelspreis für Strom zu kommen.

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Entlastung ist das Gebot der Stunde. Energie und Sprit müssen bezahlbar bleiben. Die Gasumlage darf nicht kommen. Angeschlagene Gasimporteure wie Uniper müssen staatlich aufgefangen werden. Die Unternehmen erwarten von der Bundesregierung einen Strom- und Gaspreis für Industrie und Mittelstand, der es ihnen erlaubt, wirtschaftlich zu bestehen. Die Verbrauchssteuern auf Energie müssen auf das europäische Mindestmaß runter. Allein bei Strom ist die Steuer für Unternehmen 40-mal so hoch, wie diese laut EU-Vorgabe sein müsste, bei privaten Haushalten 20-mal so hoch.

Die Pendlerpauschale muss rauf – ab dem ersten Kilometer. Damit Leistung sich noch lohnt. Die kalte Progression muss sofort abgeschafft werden – nicht erst 2023. Bei einer Anpassung der Einkommensteuertarife hätten Arbeitnehmer, etliche Betriebe und manche Rentner mehr Netto vom Brutto. Der Staat muss dafür seine Steuergewinne an Bürger und Betriebe zurückgeben.

Die größten Verwerfungen müssen abgefedert werden. Dafür braucht es eine harte Haushaltsdisziplin beim Bund. Alle Ausgaben müssen auf den Prüfstand. Das gilt vorneweg für den aktuellen Personalaufwuchs bei den Bundesministerien. Damit Deutschland wettbewerbsfähig bleibt, braucht der Mittelstand ein Belastungsmoratorium. Zurzeit findet das Gegenteil statt. Belastende Gesetze müssen ausgesetzt werden. Dazu zählt auch das EU-Lieferkettengesetz. Wenn globale Lieferketten brechen, überfordert dies den Mittelständler.

Am Ende geht es um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Deutschland hat viele Krisen überstanden. Wir können auch diese meistern. Aber nur gemeinsam mit den Mittelstandsbetrieben. Sie wissen, wie es geht. Dafür brauchen sie keinen Amtsvormund, liebe Ampel. Sie brauchen einen Befreiungsschlag. Jetzt!

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