WELT: Herr Linnemann, die Union hat ihr mit Abstand schlechtestes Bundestagswahlergebnis aller Zeiten eingefahren. Ist es da nicht vermessen, daraus einen Regierungsauftrag abzuleiten?
Carsten Linnemann: Es kam in der Geschichte der Bundesrepublik bereits vor, dass der Zweitplatzierte die Regierung angeführt hat. Meine Sorge ist eher, dass durch die Konzentration auf die Regierungsbildung die Aufarbeitung innerhalb der Partei hintenüberfällt. Das Ergebnis ist für die CDU ein Schlag in die Magengrube. Das dürfen wir nicht beschönigen, sondern müssen die richtigen Schlüsse daraus ziehen.
WELT: In Ostdeutschland liegt die CDU sogar nur auf dem dritten Platz nach SPD und AfD. Woran lag es?
Linnemann: Wir haben zu wenig deutlich gemacht, dass wir kein „Weiter so“ wollen. Die Folge: Wir verlieren weiter Stammwähler, und die Merkel-Wähler sind auch nicht mehr da. Wir brauchen dringend wieder Profilschärfe. Das dürfen wir nicht auf die lange Bank schieben. Zudem hat es offenbar nicht funktioniert, die Breite der Partei zu präsentieren. Armin Laschet hat in Nordrhein-Westfalen bewiesen, dass er genau das kann. Es ist ihm und uns nicht gelungen, das klarzumachen.
WELT: Laschet argumentiert nun mit Verantwortung für das Land. Glauben Sie nicht, dass viele Bürger darin eher Verantwortung für den eigenen Machterhalt erkennen können?
Linnemann: Am Ende des Tages muss es eine Regierung geben, die die Mehrheit der Sitze hat. Eine Minderheitsregierung ist nicht vorstellbar. Wir haben kein Interesse an dem Motto „Hauptsache regieren“. Wenn wir mitregieren, muss das eine Koalition sein, die Aufbruch und Erneuerung verspricht und nicht Status quo und Vergangenheit wie die große Koalition.
WELT: Auch Olaf Scholz reklamiert einen Regierungsauftrag für sich. Wie geht es jetzt weiter?
Linnemann: Wir dürfen jetzt nicht wieder monatelang debattieren oder wie vor vier Jahren auf dem Balkon posieren, sondern müssen schnell vorankommen. In den letzten Monaten in der großen Koalition gab es keine richtige Regierungsarbeit mehr, die sich für die Zukunft einsetzt. Genau darum muss es jetzt aber gehen.
WELT: Um die Grünen ins Boot zu holen, müsste die Union wohl vieles aufgeben. Was ist für Sie nicht verhandelbar?
Linnemann: Ich bin für das österreichische Modell. Parteien müssen erkennbar bleiben, und jede Partei muss ihre Themen bekommen. Das fand in den vergangenen zehn Jahren zu wenig statt. Wir haben teilweise den anderen Parteien die Themen geklaut. Das hat der Demokratie geschadet und darf nicht nochmal passieren. Es muss Lust auf Zukunft, Aufbruch und Dynamik entstehen. Wenn das vorhanden ist, sollte man in die Regierung eintreten. Wenn nicht, dann muss man es sein lassen. Punkt.
WELT: Sollte Laschet Anspruch auf den Unions-Fraktionsvorsitz im Bundestag erheben? Das würde sein Verhandlungsmandat stärken.
Linnemann: Darüber werden wir in den Gremiensitzungen sprechen.
WELT: Sollte die Parteibasis in die Entscheidung eingebunden werden, ob und in welche Koalition die Union eintritt? Oder reicht wieder mal ein Parteivorstandsbeschluss wie im Falle von Laschets Nominierung?
Linnemann: Wir haben bereits einen Antrag verabschiedet, dass ein Parteitag den Koalitionsvertrag verabschiedet. Wir müssen wieder mehr Mitglieder- und Programmpartei werden. Wir werden auch kaum darum herumkommen, bei der nächsten Parteivorsitzendenwahl einen Mitgliederentscheid durchzuführen.