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Mehr Staatsbürger statt Ich-Bürger

Christoph Ploß (l.) und Carsten Linnemann fordern eine umfassende Bildungsreform, die aus Deutschland eine Chancenrepublik machen soll Christoph Ploß (l.) und Carsten Linnemann fordern eine umfassende Bildungsreform, die aus Deutschland eine Chancenrepublik machen soll
Christoph Ploß (l.) und Carsten Linnemann fordern eine umfassende Bildungsreform, die aus Deutschland eine Chancenrepublik machen soll
Quelle: picture alliance/dpa/Daniel Reinhardt, picture alliance / Eventpress Stauffenberg
Die Grünen wollen „Wokeness“ und einen dominanten Staat. Das gefährdet den Zusammenhalt der Bürger, schreiben die CDU-Politiker Carsten Linnemann und Christoph Ploß. Sie schlagen ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für junge Menschen vor.

Das Wahlprogramm der Grünen ist wie eine Wassermelone: außen grün, innen tiefrot. Der Staat soll nicht mehr nur den Rahmen setzen, in dem die Menschen leben und die Unternehmen wirtschaften, sondern er soll die ganze Gesellschaft dominieren. Neben immer mehr Steuererhöhungen, immer mehr staatlichen Ausgaben und immer mehr Vorgaben für Bürger und Unternehmen kommen noch Vorschläge wie verfassungswidrige Paritätsgesetze hinzu. Das sind nur einige Leitgedanken einer Partei, die sich für immer mehr „Wokeness“ einsetzt.

„Woke“ steht für eine identitätspolitische Bewegung, die aus den USA und Großbritannien immer stärker nach Deutschland schwappt. Neben den Grünen wollen Organisationen wie die „Neuen deutschen Medienmacher*innen“ vorschreiben, wie wir in Zukunft zu schreiben und zu sprechen haben. Wörter wie „Einheimische“ oder „Migrant“ sollen aus unserem Wortschatz verschwinden. Als „woke“ gilt es, Menschen mithilfe von Quoten in bestimmte Kategorien – Hautfarbe, Geschlecht, Alter oder Religion – einzusortieren. Statt darum, was ein Mensch leistet oder was ihn als Individuum auszeichnet, geht es in erster Linie um äußere Merkmale und die Gruppenidentität.

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Solche Denkmuster galten zu Recht lange als überholt, ja gefährlich. Nun kehren sie von linker Seite in den gesellschaftlichen Diskurs zurück. Damit wird diese Bewegung zu einer realen Gefahr für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Von der selbst ernannten moralischen Avantgarde gibt es dafür Applaus; und die, die dieser Avantgarde blind folgen, surfen mit auf der Welle des scheinbar „woken“ Zeitgeistes. Andere wiederum quittieren diese Bestrebungen mit einem Achselzucken und belächeln sie.

Auf Empathie kommt es an

Doch zum Lachen sind die „Woke“-Bewegung und der zunehmende identitätspolitische Furor ganz und gar nicht. Die Gesellschaft wird fragmentiert, und einzelne Gruppen werden gegeneinander in Stellung gebracht. Die „woken“ Vorkämpfer unterstellen, dass Menschen sich nicht in andere Menschen hineinversetzen können: Wer nicht selbst von Rassismus oder Sexismus betroffen ist, soll sich zu einigen Themen nicht einmal mehr äußern dürfen. Doch gerade auf dieses empathische Hineinversetzen in andere Menschen kommt es an, wenn wir die Spaltungen in unserer Gesellschaft nicht weiter vertiefen wollen.

Welche seltsamen Blüten diese Identitätspolitik treibt, konnte man jüngst in Frankreich und in den USA sehen. Die Stadt Paris musste beispielsweise ein Bußgeld zahlen, weil sie zu viele Frauen in Führungspositionen befördert hat. An der Columbia-Universität in New York wurden nach ethnischer und sozialer Herkunft getrennte Abschlussfeiern abgehalten.

Und hierzulande? Mittlerweile gibt es bereits Forderungen nach einer Migrantenquote in der öffentlichen Verwaltung, etwa vom rot-rot-grünen Senat in Berlin. All dies widerspricht dem Geist des Grundgesetzes. Die Paritätsgesetze, die SPD, Grüne und Linkspartei auf den Weg gebracht hatten und durch die politischen Mandate abhängig vom Geschlecht verteilt werden sollen, wurden daher auch allesamt von Verfassungsgerichten für rechtswidrig erklärt.

In der Wirtschaft wiederum würden Quoten zu noch mehr staatlicher Regulierung führen und ebenfalls die freie Auswahl privater Unternehmen einschränken. Wenn Diversität ein Unternehmen erfolgreicher und attraktiver macht, werden die meisten Unternehmen in einer Marktwirtschaft von sich aus versuchen, die bestmögliche Vielfalt abzubilden, oder sie werden im Wettbewerb mit Unternehmen unterliegen, die vielfältiger aufgestellt sind. Wer meint, mit Quoten und Paritätsgesetzen mehr Gerechtigkeit schaffen zu können, erreicht in Wahrheit genau das Gegenteil: Individuelle Chancen werden zerstört, Freiheitsrechte werden eingeschränkt, und die Gesellschaft wird gespalten.

Einer solchen Entwicklung muss sich die CDU mit ganzer Kraft entgegenstellen. Das notwendige Rüstzeug dazu hat sie: das Bekenntnis zum christlichen Menschenbild, das jeden Menschen als einzigartig und wertvoll anerkennt, und das uneingeschränkte Bekenntnis zu unserem Grundgesetz. Unter anderem heißt es dort in Artikel 3, dass niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung oder seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Daraus leitet sich ein zentraler Grundsatz für unsere Gesellschaft ab: Jede Person soll gleiche Rechte und Chancen haben.

Diesem Grundsatz sollte sich die CDU mehr denn je verpflichtet fühlen. Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit sind entscheidende Eckpfeiler des Zusammenhalts in unserer immer heterogener werdenden Gesellschaft. In Deutschland braucht es jetzt keine Bewegung, die für mehr Spannungen und Divergenzen sorgt, sondern eine Politik, die den Zusammenhalt fördert und jedem Einzelnen Chancen eröffnet. Aus einem „Wir gegen andere“ muss ein „Wir zusammen“ werden.

Deutschland muss Aufsteigergesellschaft werden

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Doch wie lässt sich eine solche Vision politisch umsetzen? Der neue CDU-Vorsitzende Armin Laschet hat bei der Vorstellung der Beteiligungskampagne zum CDU-Regierungsprogramm dazu einen wichtigen Aufschlag gemacht. Er sprach von einer Aufsteigergesellschaft. Allen Menschen sollen – unabhängig von Merkmalen wie Geschlecht, Hautfarbe oder Religion – gleiche Chancen ermöglicht werden. Bildung und Sprachkompetenz sind dazu der Schlüssel.

Doch noch immer hängen in Deutschland die Chancen auf einen guten Bildungsabschluss und ein höheres Einkommen zu stark von der Herkunft ab. Insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund sind davon betroffen. Von ihnen verlassen noch immer zu viele unsere Schulen ohne Abschluss. Zu wenigen gelingt auch ein höherer Abschluss, beispielsweise an einer Fachhochschule oder Universität.

In deutschen Großstädten wie Berlin oder Bremen lernen über 40 Prozent der Kinder Deutsch nicht mehr als erste Sprache, in Hamburg immerhin über 25 Prozent. Umso stärker muss sich die Politik jetzt dem frühkindlichen Bereich widmen. Bildungsforscher weisen schon länger darauf hin, dass in den ersten Lebensjahren die Weichen fürs Leben gestellt werden. Wenn wir hier stärker investieren und fördern, steigen die Chancen der sozial schwächer Gestellten. Kitas sollten nicht nur Orte der Aufbewahrung und Betreuung sein, sondern der Förderung und insbesondere der Sprachschulung. Dazu braucht es einen besseren Betreuungsschlüssel und höhere Sprachvermittlungskompetenzen des Kita-Personals.

Die Sprachkenntnisse von Kindern sind spätestens ab dem dritten Lebensjahr kontinuierlich zu überprüfen. Dazu benötigen wir Sprachtests, die deutschlandweit einheitlich durchgeführt werden. Für Kinder, die auch ein Jahr vor der Einschulung nicht genug Deutsch sprechen, um dem Unterricht folgen zu können, fordern wir eine Vorschulpflicht. Diese Kinder brauchen dringend unsere Unterstützung, um mit der deutschen Sprache regelmäßig in Berührung zu kommen.

Auch die Digitalisierung muss an unseren Schulen endlich Gestalt annehmen. So muss es selbstverständlich sein, dass alle Schüler unabhängig von der finanziellen Situation in ihrem Elternhaus digitale Endgeräte zum Lernen erhalten. Sie sind heute das, was früher Kreide und Rechenschieber waren. Darüber hinaus müssen wir stärker in digitale Lernplattformen und Schul-Clouds investieren. Unser Nachbarland Dänemark macht uns hier vor, wie es geht. Auch flächendeckende Mentoring-Programme könnten die Eigenverantwortung und die Leistungsbereitschaft im Sinne einer modernen Bürgergesellschaft stärken. Vorbilder, die den deutschen Traum des Aufstiegs durch Bildung geschafft haben, sollten Schüler zu Leistung und Zielen motivieren.

Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr

Zur Persönlichkeitsentwicklung gehört nicht nur die Bildung des Geistes, sondern auch des Charakters. Moderne digitale Gesellschaften neigen zur Individualisierung und zur Selbstoptimierung. Der Dienst für andere, der Dienst für die Allgemeinheit wird zu einem immer selteneren Gut. Dadurch nehmen die Kontakte zwischen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten immer weiter ab. Man bleibt in den Wohnvierteln unter sich, und selbst in den Schulen kommen immer seltener Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft zusammen.

Deshalb sprechen wir uns für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für junge Menschen aus. Es soll ihnen überlassen bleiben, ob sie es bei der Bundeswehr, bei Hilfsorganisationen oder in den Bereichen Pflege und Erziehung absolvieren. Wichtig ist, dass die Menschen auch ein Leben außerhalb dessen kennenlernen, was sie bislang geprägt hat. Sie sollen erfahren, wie sinnstiftend es sein kann, anderen Menschen zu helfen. Sie sollen erfahren, was es für ein gutes Gefühl ist, gemeinsam mit anderen etwas auf die Beine zu stellen. Sie sollen lernen, dass es nicht nur Rechte in einem Staat gibt, sondern auch Pflichten. Sie sollen lernen, dass zu einem echten Diskurs auch unterschiedliche Meinungen gehören. Kurzum: Wir brauchen wieder mehr Staatsbürger und weniger Ich-Bürger.

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Am Ende soll also nicht nur ein stärkeres Wir-Gefühl entstehen, sondern auch eine neue Verbundenheit der jungen Menschen zu ihrem Land – zu Deutschland. Dann sollte es nichts Besonderes mehr sein, wenn bahnbrechende Innovationen auf deutsche Wissenschaftler mit Migrationshintergrund zurückgehen, sondern einfach Realität und Normalität. Deutschland braucht noch mehr Özlem Türecis und Uğur Şahins. Die Biontech-Gründer zeigen gerade, dass wir die großen Probleme unserer Zeit nicht mit immer mehr Staat lösen, sondern mit sozialer Marktwirtschaft, Innovationen und neuen Technologien. Türeci und Şahin haben in dieser Krise gezeigt, zu welchen Leistungen der Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland fähig ist. Sie und die vielen anderen Unternehmer und Tüftler, die mit völlig verschiedenen persönlichen Hintergründen in unserem Land erfolgreich sind, zeigen, was möglich ist, wenn wir auf Freiheit, Chancengleichheit und Leistung setzen.

Die Zukunft gewinnt nicht, wer ideologische Debatten führt und einen scheinliberalen etatistischen Quark anrührt, sondern wer den Menschen etwas zutraut, sie befähigt und ihnen Freiräume zur Entfaltung gibt. Die CDU tut gut daran, diese Zusammenhänge wieder stärker zu benennen und sie in ihrem politischen Programm hervorzuheben. Wir wollen Deutschland zu einer Chancenrepublik für alle Menschen machen.

Carsten Linnemann, MdB, ist Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) von CDU/CSU. Christoph Ploß, MdB ist Landesvorsitzender der Hamburger CDU.

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